
Jean Borella (1930), französischer Philosoph und Metaphysiker.
Artikel aus 2007, zuvor unveröffentlicht.
In Jean Borellas letztem Buch, Problèmes de gnose, gibt es ein Kapitel VI mit dem Titel „Gnose et gnosticisme chez René Guénon“ (Gnosis und Gnostizismus bei René Guénon). Diese Darstellung ermöglicht nicht nur eine Vertiefung der Unterscheidung zwischen Gnosis und Gnostizismus in Guénons eigenem Werk, sondern auch eine Charakterisierung der guénonischen Lehre der Gnosis, ausgehend von dem rein metaphysischen Begriff der Möglichkeiten.
Da diese schwierige Frage nach der Möglichkeit und der Wirklichkeit immer noch einer weiteren Erklärung bedarf, ist dies der Zweck dieses Artikels. Nun handelt es sich um eine Zusammenfassung, da dieses Kapitel VI mit seinen beiden Anhängen 75 Seiten umfasst.
Universelle Möglichkeit und reine Möglichkeiten
Erkenntnis ist eine Funktion des Realen
Die Lehre Guénons beabsichtigt, die Funktion der Gnosis als Erkenntnis zu präzisieren. Sie ist eine Funktion des Realen. So ist das, wovon der Mensch tatsächlich Kenntnis hat, voll und ganz real, alles andere ist nur möglich. Die Erkenntnis ist also „realisierend“, nicht in idealistischer Weise (sie schafft nicht das Reale), sondern weil das Reale ein Korrelat des Erkenntnisaktes ist. Im Übrigen hat es die philosophische Kritik nie versäumt, darauf hinzuweisen, dass ein Reales an sich zu setzen bedeutet, den Akt, der es setzt, zu vergessen. Deshalb sündigt die Behauptung des absoluten und unendlichen Realen durch Übermaß und Mangel: durch Übermaß, da sie als Relativität mehr sagt, als sie darf; durch Mangel, da das Absolute auf eine Behauptung reduziert wird. Diese Schwierigkeit fällt weg, wenn man sich bewusst wird, dass es das Absolute selbst ist, das sich in jedem Individuum bestätigt (das Verbum illuminans). Der Schwierigkeit eines Realen an sich entspricht eine originelle Antwort Guénons in Les états multiples de l’être (Die vielfältigen Zustände des Seins).
Die universelle Möglichkeit als Bestimmbarkeit des Prinzips
Guénon beginnt mit dieser berühmten Unterscheidung zwischen Unendlichkeit und universeller Möglichkeit. Warum ist das so? Die Universelle Möglichkeit ist „das Minimum an Bestimmtheit […], das erforderlich ist, um uns […] das Unendliche gegenwärtig denkbar zu machen“1. Das Unendliche, das alles sein kann, ist also die Widerspruchsfreiheit (was widersprüchlich ist, ist un-möglich) und übersteigt das Sein (erste aller Bestimmungen)2. Die universelle Möglichkeit ist also keine Bestimmung, sondern „die universelle Bestimmbarkeit des Prinzips“3.
Die Möglichkeit und die Wirklichkeit
Die Möglichkeit steht der Realität in dem Sinne gegenüber, dass das, was realisiert werden kann, möglich ist. Dennoch sagt Guénon, dass „die Unterscheidung zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen […] keinen metaphysischen Wert hat, da jedes Mögliche auf seine Weise und in der Art und Weise, die seine Natur mit sich bringt, wirklich ist“ (Les états multiples…, op. cit., S. 118.). Dies entspricht der Lehre der Scholastik: Man lässt das Mögliche (Adjektiv) zugunsten des Möglichen (Substantiv) als solchem stehen und kann daher seine mögliche Realisierung außer Acht lassen.
Relative und absolute Möglichkeit
Um diese Definition des Möglichen fortzusetzen, unterscheiden wir zwischen relativen und absoluten Möglichkeiten. Die Möglichkeit zu fliegen ist relativ für den Vogel, die Möglichkeit zu sprechen relativ für den Menschen. Dagegen hängt die Möglichkeit des Quadrats oder des Kreises von seiner Definition, seinem Wesen ab: Es ist eine absolute (oder intrinsische, oder logische, oder metaphysische) Möglichkeit. Das Mögliche ist somit das nicht Widersprüchliche oder das Denkbare (ein quadratischer Kreis ist nicht denkbar). Wenn man Atheist oder Materialist ist, ist dies immer der Fall: Das Mögliche ist das Denkbare. Wenn man Gott als Schöpfer annimmt, sind die Möglichkeiten darüber hinaus die Essenzen (oder Ideen, oder Modelle, oder Archetypen), nach denen das göttliche Wort alles denkt. Wie die Theologie sagt, ist das Wort der „Ort des Möglichen“.
Universelle Möglichkeit und Unendlichkeit der Möglichkeit
Nach einem von Pater Sertillanges entliehenen Ausdruck muss man sagen, dass für S. Thomas von Aquin Gott eine Unendlichkeit der Möglichkeit (im Singular) ist: Die unendliche Möglichkeit in Gott ist Gott selbst4. Man kann, S. folgend, präzisieren. Thomas immer, dass, weil „Gott sein Wesen als auf diese Weise durch dieses Geschöpf nachahmbar kennt, er es [also] als den eigentlichen Grund und die Idee dieses Geschöpfes kennt“5.“. Die Möglichkeiten in Gott sind real aus der Realität Gottes selbst, und daher hat Guénon Recht, wenn er behauptet, dass metaphysisch gesehen die Unterscheidung von real und möglich nicht gültig ist“. Die Unendlichkeit der Möglichkeit (von S. Thomas) und die Universelle Möglichkeit (von Guénon) scheinen so ähnlich zu sein, dass man meinen könnte, Guénon habe diese Elemente aus der thomasianischen Lehre entlehnt (die er aber dennoch nur sehr oberflächlich kannte).
Die privativen Möglichkeiten von Schuon
Wenn wir nun zu den „Möglichkeiten der Nichtmanifestation“ kommen, können wir kurz die Einwände von Frithjof Schuon erwähnen, für den sie, sehr empirisch, nur „Möglichkeiten der Abwesenheit“ sind: Ein Korb kann Äpfel enthalten (Möglichkeit der Manifestation) oder leer sein (Möglichkeit der Nichtmanifestation). Diese „privative Möglichkeit“ offenbart die ontologisierende (und kataphatische) Tendenz des Schuonismus, während bei Guénon die Möglichkeiten der Nicht-Manifestation unendlich über die Ebene des Seins hinausgehen6.
Das Mögliche ist nicht das Kontingente
Für Schuon ist das Mögliche „das, was sein und nicht sein kann“7. Auch wenn es sich hierbei um eine mögliche Definition der Alltagssprache handelt, kann sie in der Philosophie nicht verwendet werden. Denn „möglich ist, was sein kann“ reicht aus, um die Möglichkeit zu definieren (das „kann“ definiert sie); „oder nicht sein“ hinzuzufügen, bedeutet, etwas anderes zu definieren: das „oder“ bedeutet die Eventualität, die Kontingenz, die Nicht-Notwendigkeit. Und in der Tat unterscheidet die Scholastik (in Bezug auf die Modalitäten des Urteils) sehr wohl zwischen zwei Gegensatzpaaren: möglich oder unmöglich (je nachdem, ob eine Essenz denkbar ist oder nicht), notwendig oder kontingent (die „Existenzurteile“: was nicht nicht sein kann und was nicht sein kann).
Möglichkeit der Nichtmanifestation und reine Möglichkeiten
Auch Guénons Argumentation ähnelt der von S. Thomas: Da Gott eine Unendlichkeit der Möglichkeit ist, ist es unmöglich, dass diese Unendlichkeit durch seine geschaffene Manifestation erschöpft wird8. Es gibt also in Gott jene „reinen Möglichkeiten“, die er „beschlossen hat, niemals zu verwirklichen“9. S. Thomas stützt sich auf die Schrift: „[Gott] ruft die Nichtseienden als Seiende (ta mè ontas ôs onta)“, was in seiner lateinischen Version, die S. Thomas liest, bedeutet: „Gott ruft die Dinge, die nicht sind, ebenso wie die, die sind (Deus vocat ea quæ non sunt, tamquan ea quæ sunt)“. Das bedeutet, dass „die Dinge, die nicht sind“ „dennoch in der Macht Gottes stehen“, da er sie „ruft“. „Gott kennt alle Dinge […], auch wenn diese Dinge nicht in der Tat existieren“ (S. th. I, Q. 14, a. 9.). Der geschaffenen Existenz beraubt, sind diese Dinge nicht des Seins beraubt (im Gegensatz zu Schuons privativen Möglichkeiten).
Die reinen Möglichkeiten sind nicht ungeschaffen
Dennoch sollten wir diese Ähnlichkeiten zwischen Möglichkeiten von Nicht-Manifestationen und reinen Möglichkeiten näher untersuchen10. Wörtlich übersetzt bedeutet mere possibilia „die rein Möglichen“ (mere ist ein Adverb). Die possibilia sind die Ideen von allem, was in der Schöpfung existiert, existiert hat oder existieren wird, die mere possibilia sind also die Ideen, die ewig keine andere Realität haben als die, göttliche Möglichkeiten zu sein. Sie entsprechen also den non entia des Hl. Thomas, nicht den Nichtseienden, die keine gegenwärtige Existenz haben (aber existiert haben oder existieren werden), sondern jenen Nichtseienden, die niemals waren, sind oder sein werden11. Das heißt, was die christliche Theologie (eine im Mittelalter viel diskutierte Frage) als reine Möglichkeiten bezeichnet, sind die Möglichkeiten von Schöpfungen, die nicht geschaffen werden. Dies erlaubt es nicht mehr, sie vollständig mit den Guénonschen Möglichkeiten der Nichtmanifestation zu identifizieren.
Die reinen Möglichkeiten sind erkennbar, ob sie „existieren“ oder nicht
Die reinen Möglichkeiten sind also erschaffbar, denn was würde sonst die Idee der Möglichkeit bedeuten? Denn sie sind nicht aufgrund ihrer Natur unerschaffbar, sondern aufgrund des Dekrets des göttlichen Willens.
So wie der Handwerker das kennt, was er noch nicht geschaffen hat, so ist „die Erkenntnis [die Gott von der Sache hat] gleichgültig gegenüber der Existenz oder Nichtexistenz der Sache“12. Anders ausgedrückt: „Die intelligible Form, um die es sich handelt [das rein Mögliche], ist der göttliche Intellekt selbst, und so erkennt er sich selbst durch sich selbst“13.
Die „Primäre Materie“ ist also kein Unschöpfliches
Noële Maurice-Denis14 glaubte, dass einige der reinen Möglichkeiten von S. Thomas von sich aus unrealisierbar sein könnten: „Einige Mögliche entsprechen metaphysischen Prinzipien, die nicht schöpfbar sind […] (das ist der Fall der ersten Materie), andere, die von sich aus schöpfbar wären, sind es in Wirklichkeit nicht“15. Dies sind die eigentlichen Guénonschen Möglichkeiten der Nichtmanifestation, wobei Noële Maurice-Denis unter dem Einfluss Guénons versucht, S. Thomas in diese Richtung zu ziehen. Thomas in diese Richtung zu lenken, obwohl er explizite Texte zu diesem Thema geschrieben hat, sogar einen ganzen Abschnitt der Summa of Theology, in dem er nachweist, dass die primäre Materie (materia prima) geschaffen ist((In Abschnitt 2 der Frage 44 (1ère Teil) fragt er: „Ist die primäre Materie von Gott geschaffen?“ Hier seine Antwort: Gott ist nicht nur Ursache der Form eines Wesens, die der Materie fehlt, sondern auch des Wesens selbst; die Materie aber ist vom Wesen, so wenig es auch sein mag; „es besteht also die Notwendigkeit zu behaupten, dass auch die erste Materie von der universellen Ursache der Wesen geschaffen wird“. Und ebenso antwortet er in Artikel 1 der Frage 46 denjenigen, die behaupten, dass weder die Materie noch der Himmel entstanden sein können, dass „die Materie und der Himmel durch Schöpfung zum Sein gebracht wurden“).). „Wahr ist, dass die erste Materie nicht als unabhängige und getrennte Realität geschaffen wird, da sie nicht allein existieren kann, sondern nur als das, was von der Form informiert wird, als Bedingung für die Existenz der Form (für alle Wesen, die aus Form und Materie bestehen)“: „Wenn die Materie in irgendeiner Weise etwas vom Sein ist, wird sie von Gott verursacht, sie wird geschaffen oder vielmehr mit der Form mitgeschaffen16. Sie besitzt also in Gott eine Idee oder ein Modell, d.h. sie ist dort eine bestimmte Art der Ähnlichkeit des göttlichen Wesens17.
Ewig ungeschaffenes Kreatürliches!
Ein ewig ungeschaffenes Schöpfbares – ist das ein verständlicher Begriff? Wenn es sich um Naturwesen handelt, scheint es nicht so zu sein, denn es ist unmöglich, dass das, was geschehen kann, niemals geschieht (wenn man ihm genug Zeit lässt)18. In der göttlichen Ordnung hingegen zwingt uns die Betrachtung der göttlichen Unendlichkeit zu der Annahme, dass keine Schöpfung die Möglichkeiten der Ähnlichkeit, nach denen Gott teilhabbar ist, ausschöpfen kann (dies ist der Hauptgrund für die Existenz der reinen Möglichkeiten). Da die reinen Möglichkeiten außerdem (ewig ungeschaffene) Kreierbare sind, ist es also Gottes freie Entscheidung (sein Wille), die zwischen den ungeschaffenen und den geschaffenen Kreierbaren entscheidet (und nicht die Natur jeder Möglichkeit, da a priori und in Bezug auf die Kreierbarkeit nichts die einen von den anderen unterscheidet). Nur die göttliche Freiheit, die an der Wurzel des Seins des Geschaffenen liegt, erklärt die Kontingenz des Geschöpfes, die ihren Grund nicht in sich selbst hat (in der Natur des Möglichen, das sie manifestiert). Dies ist die einzige Lösung, auch gegen Guénon19.
Dass Unerschaffbares nicht erschaffen werden kann, ist eine Tautologie
Wenn das stimmt, dann sind die Möglichkeiten der Nichtmanifestation von sich aus (und nicht aufgrund göttlicher Entscheidung) Unmöglichkeiten der Manifestation. Daher ist es sinnlos, ihre prinzipielle Realität zu erklären, indem man die Unendlichkeit der universellen Möglichkeit der Endlichkeit der Manifestation gegenüberstellt. Und doch tut Guénon genau dies, unnötigerweise, da die Natur dieser Möglichkeiten ihre Abwesenheit in der Manifestation erklärt. Andernfalls wäre die Aussage, dass die Unschöpflichen nicht zur Schöpfung gehören können, eine reine Tautologie. Damit die Endlichkeit des Geschaffenen eine Reihe von Möglichkeiten aus sich selbst heraus ausschließt, müssen diese Möglichkeiten doch Kreierbares sein!
Göttlicher freier Wille oder guenonische Notwendigkeit?
Die „Berufung“ auf die göttliche Freiheit mag wie ein Ausweg erscheinen, der mit Anthropomorphismus gepaart ist. Aber kann eine menschliche Rede mehr aussagen? Die Anerkennung der Grenzen unserer Spekulationen […] wird immer den Pseudolösungen einer allzu formalen Metaphysik vorzuziehen sein [und ermöglicht es], in die doktrinären Reden die Zurückhaltung und die Ehrfurcht einzuführen, die ausdrücklich den Anteil des Unaussprechlichen bewahren“. Guénon vergisst es zwar nicht, aber seine Rede, „die sich als höchste und unüberholbare Instanz versteht, vermittelt eher das Gefühl, alles sagen zu können“. „Die Abhängigkeit des geschaffenen Kreierbaren vom göttlichen Dekret der Existenzialisierung […] spiegelt die radikale Kontingenz jeder geschaffenen Existenz wider“. Warum wird dieses Erschaffbare geschaffen und jenes nicht, wäre wie die Frage: Warum sind diese Dinge oder diese Wesen, was sie sind? Auf diese Frage gibt es keine Antwort: An der Wurzel der Schöpfung steht etwas Unverständliches, ein Geheimnis, das nur Gott gehört.“20. Bei Guénon hingegen wird alles durch eine eiserne Logik geregelt, eine Art von Necessitarismus, der dem von Spinoza zumindest in einigen Aspekten sehr ähnlich ist. Einerseits sind alle Möglichkeiten mit einer bestimmenden Natur ausgestattet, die das Schicksal eines jeden von ihnen steuert, und andererseits gibt es für Gott gewissermaßen nichts mehr zu tun: Das Manifestable manifestiert sich kraft seiner Natur, und umgekehrt für das Nicht-Manifestable21.
Die Metaphysik von Guénon ist zu ensemblistisch
Ist diese guenonische Logik makellos? Wenn überhaupt, ist die Metaphysik Guénons nicht rein formal, dann ist sie zumindest „ensemblistisch“. Er definiert Ensembles gemäß einer Hierarchie von Umhüllungen und einer Kohärenz, die schwer zu erfassen sind. Man kann sich auch fragen, ob diese Ensembles Realitäten entsprechen (haben sie eine ontologische Bedeutung?), oder ob sie nur nominell und spekulativ sind, d.h. unter den „Standpunkt“ fallen.
Eine widersprüchliche ensemblistische Logik
Guénon betrachtet zwei Ensembles: das Unmanifestierte und das Manifestierte22. Nun gut! Aber es wird dunkler, sobald er vom Sein spricht. Das Sein ist das „Prinzip der Manifestation“ und schließt „zugleich“ „in sich alle Möglichkeiten der Manifestation […] ein, aber nur insofern, als sie sich manifestieren. Außerhalb des Seins gibt es also alles andere, d.h. alle Möglichkeiten der Nichtmanifestation, zusammen mit den Möglichkeiten der Manifestation selbst, insofern sie sich im nichtmanifestierten Zustand befinden; und das Sein selbst ist darin eingeschlossen„, da es sich als Prinzip nicht manifestieren kann23. Das Sein ist also gewissermaßen außerhalb seiner selbst, ausgeschlossen von seiner eigenen Möglichkeit!
Aber das ist noch nicht alles. Weiter unten heißt es: „Die Manifestation umfasst natürlich nur die Gesamtheit der Möglichkeiten der Manifestation, insofern sie sich manifestieren„; was zuvor vom Sein gesagt wurde. Guénons ensemblistische Logik scheint durchaus Widersprüche zu bergen.
Einige einfache Tautologien
In diesem Sinne „müssen wir annehmen, dass die Kategorien [Guénons] eher Ansichten sind, […] Arten, die Dinge ohne ontologische Bedeutung zu betrachten, klassifizierende Instanzen, kurz gesagt, dass sie dem spiegelbildlichen Modus entspringen“ (Hervorhebung hinzugefügt). Dies würde erklären, warum ein und dieselbe Menge an Möglichkeiten zwei verschiedenen Klassen angehören kann, je nachdem, wie man sie aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. So gehört das Manifestierbare, insofern es sich nicht manifestiert, zum Unmanifestierten und, insofern es sich manifestiert, zur Manifestation. Das ist genau das, was Guénon sagt, wie wir gerade gesehen haben.
Es gibt zwei Fragen. Erstens: „Was sagt man, wenn man sagt, dass das Manifestierbare als Nicht-Manifestes zum Nicht-Manifestierten gehört? Nichts, das ist reine Tautologie“ (das Unmanifestierte gehört zum Nicht-Manifestierten). Zweitens: Wenn diese Interpretation in Bezug auf den Standpunkt richtig ist, folgt daraus nicht, dass dieselben Entitäten (Manifestationsmöglichkeiten) entweder als manifestiert oder als nicht-manifestiert betrachtet werden, ohne dass der Standpunkt etwas an ihrer Natur ändert? Wenn nun diese beiden Zustände des Manifestierbaren (ein Zustand der Manifestation und ein Zustand der Nicht-Manifestation) nur je nach dem Standpunkt, von dem aus man sie betrachtet, unterschiedlich sind, ist dies also nicht damit vereinbar, dass eine Möglichkeit nur aufgrund ihrer Natur zum Manifestierten oder zum Nicht-Manifestierten gehört. Mit der Natur verlässt man nämlich die spiegelbildliche oder „perspektivische“ Interpretation und kehrt zur ontologischen Interpretation zurück.
Viele Schwierigkeiten wären vermieden worden, wenn Guénon eine eher philosophische als mathematische (ensemblistische) Sprache verwendet hätte, wenn er die Bedeutung des Konzepts der Möglichkeit besser berücksichtigt hätte und wenn er über eine feste Lehre der Schöpfung verfügt hätte. Ganz einfach: Die Möglichkeiten von Manifestationen sind als Möglichkeiten selbst immer unmanifestiert!
Ein Teufelskreis
Und das Gleiche gilt für das Sein („zumindest so, wie Guénon es sich vorstellt: eine onto-kosmologische Reduktion des thomasischen esse„). Eine Lösung wäre gewesen, das Sein einfach als Zwischenglied oder „Landenge“ zwischen dem Ungeschaffenen und dem Geschaffenen zu betrachten: „Als Prinzip nicht manifestiert, verleiht es jedem Existierenden, das in gewisser Weise in ihm enthalten bleibt, seine ontologische Prägung“. In der Tat ist „das Guénonsche Sein eher das Sein der Manifestation“ (das Manifestierbare wurde zum Manifestierten). Die Transzendenz des Seins, die von Guénon zwar bekräftigt wurde, scheint hier jedoch zugunsten der „spiegelbildlichen Idealität eines Standpunkts“ zu verschwinden.
So weist Guénon darauf hin, dass die Unterscheidungen, die wir zwischen Nicht-Sein und Sein (unmanifestiert und manifestiert) treffen, „weit davon entfernt sind, irreduzibel zu sein, sondern nur unter dem relativen Gesichtspunkt existieren, unter dem sie aufgestellt werden, und […] sie erlangen diese kontingente Existenz, die einzige, derer sie fähig sind, nur in dem Maße, wie wir sie ihnen selbst durch unsere Konzeption verleihen“ 24. Um diesen Standpunkt einzunehmen, muss man jedoch die Unterscheidung zwischen dem unmanifestierten und dem manifestierten Zustand des Menschen bereits getroffen haben, „also bereits der Illusion unterworfen sein, von der uns gesagt wird, dass der menschliche Standpunkt dafür verantwortlich ist“ (Ibid.). Kurz gesagt, entweder ist es ein Teufelskreis oder ein regressus ad indefinitum„.
Es gibt keinen Superstandpunkt
Die eigentliche Frage ist: Wo befindet sich Guénon, wenn er die Unterscheidung der Grade des Wirklichen und ihre höchste Nicht-Unterscheidung beschreibt? Sieht er gleichzeitig vom menschlichen Standpunkt aus und vom Standpunkt des Nicht-Seins? Sicherlich ist der Leser davon überzeugt, der nun ebenfalls die abgeschafften Unterscheidungen (vom Nicht-Sein aus) und die getroffenen Unterscheidungen (vom menschlichen Relativum aus) sieht. Hier hat der Leser schlichtweg vergessen, dass er selbst nur ein Standpunkt ist. Und er denkt, dass er von diesem panoptischen Standpunkt profitiert, obwohl Guénon ihm das als Mensch verbietet!
Ist die „absteigende Verwirklichung“ nach Guénon die Lösung?
Kann man diese panoptische Sicht auf die „absteigende Verwirklichung“ nach Guénon gründen?25. Laut A. K. Coomaraswamy, der von Guénon zitiert wird, ist „das Ende des Pfades nicht erreicht, solange Atmâ nicht sowohl als manifestiert als auch als nicht-manifestiert bekannt ist“. Speziell, und das ist die „absteigende Verwirklichung“, muss man „Atmâ inkorporiert in die Welten“ verwirklichen. „Diese Lehre ist in ihrem Prinzip umso annehmbarer, als sie uns nicht ohne Zusammenhang mit dem zu sein scheint, was Christus in der Heiligen Schrift lehrt. Matthäus (VI, 33): „Suchet zuerst das Reich und seine Gerechtigkeit, und das Übrige wird euch hinzugegeben werden“ (oder, metaphysisch interpretiert: „Suchet zuerst das Absolute – und das Relative wird euch hinzugegeben werden“)“. Aber wie lässt sich eine solche Verwirklichung mit der Nichtigkeit des Manifestierten vereinbaren? Denn, so sagt Guénon, „man darf nie aus den Augen verlieren, dass im Hinblick auf das Unendliche die gesamte Manifestation rigoros null ist“26. Wie kann man also den Weg zu Ende gehen, wenn das Manifestierte keine eigene Wahrheit hat! Guénon entdeckte diese Inkohärenz und erklärte schließlich, „dass man letztlich nicht sagen kann, dass das Manifestierte strikt vernachlässigbar ist“27.
Guénonische Metaphysik: Gnosis oder Gnostizismus?
Das Nicht-Manifestable ist nur auf der Grundlage des Manifestablen denkbar
Trotz der Schwierigkeiten, die die Möglichkeiten des Nicht-Manifestierbaren mit sich bringen, besagt die Lehre Guénons, dass wir sie begreifen können: Wir „können diese Möglichkeit, die die Leere ist, oder jede andere derselben Art begreifen“, wie etwa die Stille, die Dunkelheit oder die metaphysische Null (die vier von Guénon erwähnten Nicht-Manifestierbaren); aber wir können sie nicht „in unterscheidender Weise“28 begreifen. Denn sie sind, wie Guénon und der Vedânta lehren, nirvishésha: „frei von Unterscheidung“29. Trotzdem impliziert die Art und Weise, wie Guénon über sie spricht, ihre Unterscheidung: Sie sind, wie er sagt, ebenso viele „Aspekte“ des Nicht-Seins, „jeder ist eine der Möglichkeiten, die es enthält“ (Les états multiples…, S. 36.).
Wenn man den Text aufmerksam liest, „stellt man fest, dass die Nicht-Manifestablen nur ausgehend von den Manifestablen denkbar sind“. Im Fall der Stille legt Guénon bemerkenswert die Beziehung zwischen dem Wort und ihr dar und kommt zu dem Schluss, dass dies ermöglicht, „Möglichkeiten der Nichtmanifestation zu begreifen, die durch analoge Übertragung bestimmten Möglichkeiten der Manifestation entsprechen“30. Trotz dieser ungewöhnlichen Syntax (wo „durch analoge Transposition“ zu bedeuten scheint, dass die nicht-manifestierte Stille der manifestierten Sprache entspricht), scheint es, dass Guénon eher sagen will, dass die manifestierte Sprache durch analoge Transposition der nicht-manifestierten Stille entspricht (von unten nach oben). Dies scheint durch die Texte bestätigt zu werden: „Das Wort ist nur die bekräftigte Stille“ und die Stille „ist auch etwas mehr (und sogar unendlich viel mehr)“. Sie ist nicht nur „das unausgesprochene Wort“, sondern auch „das Unaussprechliche“31.
Eine „unaussprechliche Möglichkeit“ wird nicht durch ein Manifest ausgedrückt
Was will Guénon also damit sagen? Ist dies notwendig, um zu verstehen, was eine nicht-manifestierte Möglichkeit ist? Denn dass eine unaussprechliche Möglichkeit nicht durch das Wort ausgedrückt werden kann, wäre wiederum tautologisch. Könnte es sein, dass die Wort-Möglichkeit durch das manifestierte Wort ausgedrückt wird? Sicherlich nicht! „Jedes manifestierte Wort ist nur ein fernes und mangelhaftes Abbild des ungeschaffenen Wortes“ (der Wort-Essenz“). „Der Beweis dafür ist, dass dieses wesenhafte Wort das göttliche Wort ist : das Wort im Prinzip, das als solches nicht manifestiert werden kann (“Gott, niemand hat ihn je gesehen“, Joh I, 18)“, das aber in der Ordnung der Natur „Quelle unzähliger Manifestationen seiner selbst ist, während es sich in der Ordnung der Gnade “ausgesprochen“ hat, indirekt “vielfach und auf vielerlei Weise“ (Hebr I, 1) und direkt in der christlichen Form“.
Gott ist eine Unendlichkeit der Erschaffbarkeit
So ist es die Wort-Möglichkeit – und das gilt für jede Möglichkeit -, die als solche unaussprechlich ist. „Die Möglichkeiten der Manifestation sind als Möglichkeiten ebenso nichtmanifestabel wie das Guénonsche Nichtmanifest32. Was manifestiert wird, was wir in unserer Welt sehen, sind nicht diese Möglichkeiten, sondern die Geschöpfe, von denen sie das göttliche Exemplar sind. Man ist berechtigt, daraus zu schließen, dass alle Möglichkeiten, ob reine Möglichkeiten oder relative Möglichkeiten, Kreierbares sind, entweder für immer ungeschaffen oder Exemplare der Geschöpfe. Da Gott eine Unendlichkeit der Möglichkeit ist, ist er dadurch auch eine Unendlichkeit der Kreierbarkeit„.
Gott ist kein Kreierbarer, sondern ein Partizipierbarer
Aber wenn Gott eine Unendlichkeit der Kreierbarkeit ist, ist er keinesfalls eine Unendlichkeit der Kreierbarkeit – und das, ohne dass man zu Guénons radikalen Nichtkreierbarkeiten zurückkehren müsste. Es ist so, dass die göttliche Essenz unendlich teilhabbar ist; das ist es, was es ihr ermöglicht, unendlich transzendent gegenüber jeder Teilhabe zu bleiben, die per definitionem immer endlich ist. „Die absolute Transzendenz impliziert rigoros die unendliche Immanenz“. Mit anderen Worten, das unendliche Gute ist selbstverbreitend (oder „Gott ist Liebe“, sagt Johannes), d.h. es überströmt unendlich alle seine Liebesergüsse. So gibt es keinen Widerspruch in der katholischen theologischen Lehre, vorausgesetzt, man folgt ihr bis zum Ende: Das göttliche Wesen ist nicht der metaphysische „Ort“, an dem alle Schöpfung ausgelöscht wird, sondern der Ort, an dem die Schöpfung zu ihrer wahren Realität gelangt33.
Aber wovon spricht Guénon?
Umgekehrt, führt Guénons Konzept, nicht in seiner Absicht, sondern aufgrund der Art und Weise, wie es präsentiert wird, nicht „zu einer Art Auslöschung des göttlichen Prinzips“? Zwar könnten die Verweise auf indische Lehren darauf hindeuten, dass Gott erwähnt wird, aber wäre das nicht auf unsere „religiösen mentalen Gewohnheiten“ zurückzuführen, da in seinem Buch (Die vielfältigen Zustände…) der Name Gott so gut wie nie erwähnt wird? Und wenn er es doch tut, entschuldigt er sich dafür34. Um in die Perspektive Guénons einzutreten, müssen wir also aufhören, die Worte Unendlichkeit, universelle Möglichkeit, Nichtsein, Sein in theologischen Begriffen zu interpretieren. Guénon spricht nicht von Jemandem, der jede Ausdrucksweise transzendiert und jenseits aller Sprache bleibt, dem Anderen schlechthin; er spricht von Zuständen des Seins, ohne sich jemals zu fragen, von welchem Sein er spricht. Seine Rede ist ohne Bezugspunkt, oder besser gesagt: Sie ist selbstreferentiell. Spricht er vom Menschen, von Gott, von einem anderen Wesen? Der „Mensch“ ist nur ein Seinszustand in einer Unendlichkeit von anderen, ebenso „Gott“. Auch die Unendlichkeit, die universelle Möglichkeit, das Nicht-Sein sind nichts anderes als Seinszustände, hierarchische Kategorien einer anonymen Wirklichkeit. Sie sind nichts weiter als Standpunkte.
Dies ist, radikal betrachtet, der Ansatz Guénons. Er verlangt von seinem Leser „eine totale Entwurzelung des Seins“; er muss jeden existenziellen Situs aufgeben und „in die unbestimmte Unendlichkeit eines namenlosen und schwerelosen Realen“ eintauchen.
Guénon: Religiöse Metaphysik oder radikaler Nicht-Theismus?
Hier liegt eine Zweideutigkeit vor, deren man sich offenbar bewusst werden muss. Die Begriffe Unendlichkeit, Möglichkeit, Nicht-Sein, Sein, Existenz sind einfache philosophische Konzepte und würden, wenn sie mit einem kleinen Anfangsbuchstaben geschrieben würden, den spekulativen Charakter von Guénons Rede offener offenbaren. Sie mit einem Großbuchstaben zu schmücken, wie es Guénon tut, läuft hingegen darauf hinaus, sie zu metaphysischen Quasi-Gottheiten zu machen, die einen Eigennamen tragen oder zumindest quasi-theologische Bezeichnungen35. Zumindest spricht Guénon, ähnlich wie bei seiner Aufforderung, sich von einem „religiösen“ Diskurs zu lösen, von Metaphysik in „religiöser“ Sprache! Von da an nimmt das, was rein spekulativ war, einen „theischen“ Aspekt an, und die Begriffe erhalten einen geheimnisvollen, transzendenten Hintergrund.
Diese „theistische“ Sakralisierung metaphysischer Konzepte ist leicht zu erkennen, wenn Guénon erklärt, dass die Unendlichkeit und die Möglichkeit „Brahma und seine Shakti sind„36, oder wenn er die „subsumtiven“ Fähigkeiten der Kategorien des Nicht-Seins, des Seins oder der universellen Möglichkeit hervorhebt. In der Tat spielen diese Kategorien eine sehr aktive Rolle: Sie „verstehen“, „schließen aus“, „bestimmen“ usw., wie echte metaphysische Gottheiten – wie jeder syntaktische Zwang, der dem Subjekt eines Handlungsverbs den Wert eines Agens zuweist (actiones sunt suppositorum, „Handlungen sind die Eigenschaft von Stellvertretern“, d.h. von „persönlichen Wesen“). Dies gilt umso mehr, als Guénon sich zwar manchmal bemüht, nicht vom Sein, sondern vom „Grad des reinen Seins“ zu sprechen37, belässt er nicht nur diese Großschreibung des „Seins“, sondern auch direkt seine Identifizierung mit „Ishwara“, dem schöpferischen Herrn der Hindu-Tradition((L’homme et son devenir selon le Védânta, 1952, S. 76 und passim.)), den man „am wenigsten ungenau“ mit „Gott“ übersetzen kann((Ibid., p. 25.). „So schwankt, wenn wir uns nicht irren, die Darstellung Guénons zwischen einer möglicherweise “theischen“ Darstellung und einer rein metaphysischen Darstellung, in der die verschiedenen Stufen nur eine spiegelbildliche Bedeutung haben“ (dies sind nur Gesichtspunkte). In letzter Konsequenz und unter Berücksichtigung von Guénons Warnungen, dass die theistische Interpretation eine „falsche Interpretation wäre, die dazu führt, dass das reine Sein durch „ein Wesen“ ersetzt wird“38, wird man sagen, dass „die metaphysische Spekularität die Oberhand gewinnt“ und somit ein radikaler Nicht-Theismus, während umgekehrt die Solidarität, die das Ontologische mit dem Theologischen vereint, bestätigt wird.
Guénon: Eine Metaphysik des Wissens
Was rechtfertigt eine solche Perspektive? Selbst wenn sie als selbstbegründend bezeichnet werden sollte, kann man zumindest nach ihrem Sinn fragen. Uns scheint, dass das Guénonsche Unternehmen nicht eine Metaphysik des Seins, sondern eine Metaphysik des Wissens, eine Gnosis, ist. Da die Stufen des Seins zu Standpunkten werden, wird die skalare Ontologie zu einer spiegelbildlichen Ontologie (wenn man überhaupt noch von Ontologie sprechen kann).
Losgelöst von jeder ontologischen Bindung, ohne existenziellen Situs – so haben wir gesagt -, spiegelt die Natur des Guénonschen Diskurses das Wunder der Intelligenz gut wider: „Insofern die Erkenntnis der gemeinsame Akt des Erkennenden und des Erkannten ist, ist in diesem Akt das Subjekt nicht mehr in sich selbst, da es auf gewisse Weise zum Objekt wird, und das Objekt ist nicht mehr in sich selbst, da es auf gewisse Weise im Subjekt ist. Und dieses Wunder, das die Erkenntnis, jede Erkenntnis ist, wird durch das Wunder der Einsicht verwirklicht“. Die Intellektion als solche ist „außerweltlich“, und deshalb ist sie universell. „Die Intelligenz ist das Nicht-Subjekt, sie ist die Öffnung, die Leere, die Lücke, die der Schöpfer im Subjekt öffnet, indem er in sein Gesicht die Lebensspirale bläst, das „Fenster“, durch das die Welt, indem sie ihren existenziellen Situs verlässt, in die Ordnung der Erkenntnis eintreten und zum Intelligiblen geboren werden kann“. Von da an ist es die Erkenntnis an sich, die zum einzigen Bezugspunkt wird; „nicht mehr das objektive Sein bestimmt die Erkenntnis, sondern die Erkenntnis, die das mögliche Sein zu einem bestimmten Sein macht und es daher versteht und übersteigt. Das ist genau das, was Guénon meint, wenn er von “Verwirklichung durch Erkenntnis“ spricht“ und, mehr noch, dass das, was die Erkenntnis verwirklicht, die Realität selbst ist. Mit anderen Worten: Der Begriff „Realität“ hat nur in Bezug auf das Erkennen eine wahre Bedeutung. “ “Das Erkennen“ und “das Sein“ sind die beiden Seiten ein und derselben Wirklichkeit“39.
Das „objektive Sein“ Guénons ist, streng genommen, nur ein Mögliches
Bezeichnenderweise schreibt Guénon am Ende der Vielfältigen Zustände des Seins, dass „es hier der Ort ist, etwas genauer zu erklären, wie die metaphysische Identität des Möglichen und des Wirklichen zu verstehen ist: Da alles Mögliche durch die Erkenntnis verwirklicht wird, stellt diese Identität, universell genommen, die Wahrheit an sich dar, denn diese kann gerade als die vollkommene Übereinstimmung der Erkenntnis mit der totalen Möglichkeit verstanden werden“ (Ebd., S. 28). Diese Erklärung wurde auf S. 28, Anm. 1 angekündigt.)) „Man muss also, wenn man wirklich in diese Lehre eintritt, aufhören, das objektive Wesen, das Objekt des Erkennens, als ein Reales zu betrachten, das dem Akt, der es zur Kenntnis nimmt, vorausgeht. Das objektive Wesen erlangt die Ordnung des Wirklichen nur durch das ausführende Amt der Erkenntnis. Vor dieser Erkenntnis ist das objektive Sein streng genommen nur ein Mögliches“ – umso mehr, als dieses „objektive Sein“ auch zum Nicht-Sein gehört.
Dennoch ist die Erkenntnis vermittelt und indirekt
Wir müssen die Lüge oder Illusion erkennen, die in jedem metaphysischen Diskurs mit ontologischem Ziel stecken kann, da wir sie nicht tatsächlich erfahren. Dennoch sind wir nicht zum Agnostizismus verurteilt, denn „allein die Vorstellung von Gott, der ewig, unendlich und allmächtig ist, vermittelt unserem Geist etwas von seiner Wirklichkeit“. Das liegt daran, dass die gewöhnliche Erkenntnis vermittelt und indirekt ist („in Rätseln und Spiegeln“ (1 Kor 13,12), sagt Paulus), die von sich aus „zu einer höheren Erkenntnis aufruft, zu einer heiligen Erkenntnis, durch die das, was nur erahnt wurde, tatsächlich und vollständig real wird, und die dadurch dem Wort “Realität“ seine wahre Bedeutung verleiht“.
Die akzeptable Bedeutung von „Möglichkeiten der Nichtmanifestation“
Diese Abhängigkeit der Realität von der Erkenntnis ist nicht Teil des klassischen Idealismus: Die Erkenntnis hat keine schöpferische Kraft. Man geht nicht von einem erkennenden Subjekt aus, das in seiner Einsamkeit gestellt wird, wie es der Cartesianismus (aber war Descartes ein Cartesianer?) und seine kantische Weiterführung tun. Nicht das Subjekt ist das Erste (wie im subjektiven Idealismus), noch das Objekt (wie im realistischen Objektivismus), sondern die Erkenntnis „an sich“: der Ort, an dem die Realität selbst steht40. Andererseits gibt es diese ontologische Ausrichtung jedes kognitiven Ziels, diese Intelligenz, die Sinn des Seins ist (das Sein hat nur für die Intelligenz einen Sinn), diesen grundlegenden Ontotropismus jedes intellektuellen Akts, und man muss ihn wohl begründen. Dies ist es, was sich laut Guénon im Aufkommen der „Realität“ als Verwirklichung des Seins durch die Erkenntnis erfüllt (wenn wir zumindest seine Lehre verstanden haben).
„Darin liegt, so glauben wir, die Rechtfertigung dieser Lehre“. Daraus ergibt sich das Recht, von Möglichkeiten der Nichtmanifestation zu sprechen, indem man ihr eine akzeptable Bedeutung verleiht. Der Grund, warum Guénon sie nicht als Realitäten bezeichnet, obwohl sie zum prinzipiellen Realen gehören, liegt darin, dass sie im Hinblick auf ihre Verwirklichung durch Erkenntnis nur Möglichkeiten sind. „Mit anderen Worten, aus einer Perspektive, in der die Erkenntnis alles ist, ist alles nur möglich, durch Erkenntnis realisierbar“. Man muss sie also dem Leser als solche bezeichnen, um den „objektivistischen Chosismus“ jedes Diskurses zu verhindern und die Forderung nach einer Verwirklichung einzuführen. Dies scheint uns der tiefere Grund zu sein, der die von Guénon gewählte Ausdrucksweise legitimiert. So erklärt sich auch, warum Guénon Die vielfältigen Zustände… mit der Unterscheidung zwischen der „universellen Möglichkeit“ und dem Unendlichen beginnt. Weil das Ganze aus der Perspektive der Erkenntnis (seiner Erkennbarkeit) und als durch Erkenntnis erreichbar betrachtet wird. Damit setzt Guénon die Erkenntnis (oder die Gnosis oder die Metaphysik) „als den Modus ohne Modus ein, in dem die integrale Realität eintritt“. Dann wird die Universalisierung des kognitiven Intellekts eins mit der Unendlichkeit seines „Inhalts“41.
Guénons Wissen ist das Wissen, das Gott kennt!
Beim Versuch, die christliche Theologie und die Lehre Guénons zu vergleichen, stellt man fest, dass das, was Guénon über die Erkenntnis sagt, genau das ist, was S. Thomas über die göttliche Erkenntnis sagt, abgesehen natürlich von der Tatsache, dass die reinen Möglichkeiten Kreatürliches sind. Denn diese reinen Möglichkeiten sind in der Erkenntnis, die Gott von ihnen hat (Seine „Wissenschaft der bloßen Intelligenz“), real, und vor allem existieren sie nicht vor der Erkenntnis, die Gott von ihnen hat, sondern sind rigoros zeitgleich mit dem ewigen Akt, in dem Gott sie erkennt. „Schließlich, und dabei wollen wir es belassen, ist der göttliche Intellekt, wie der universale Intellekt von Guénon, vollkommen identisch mit seinem intelligiblen Inhalt und kann nicht von diesem unterschieden werden“.
Weder Gott noch Mensch; und Buddhi und jenseits von Buddhi
Der Weg der Gnosis nach Guénon abstrahiert also „von jeder apriorischen Unterscheidung zwischen der Erkenntnis eines Gottes und der eines Menschen“. Diese Erkenntnis, so wiederholen wir, „ist in sich selbst und als erstes gesetzt in Bezug auf die Vielzahl der Zustände des anonymen Wesens, die alle realisierende Teilnahmen an seiner ständigen Aktualität sind“, und durch alle seine „Grade, die nichts an seiner wesentlichen Natur ändern“.
Es bleibt festzuhalten, dass diese Rede an Menschen gerichtet ist; es muss also durchaus auf die Erfahrung zurückgegriffen werden, die der Mensch mit dem Wissen macht: ein Akt des Intellekts. Guénon wird sich dann also sowohl auf buddhi, den Intellekt, als auch auf seine eigene Umsetzung jenseits von buddhi beziehen, wenn es um universelles und unbedingtes Wissen geht, das heißt, das keiner Bedingung mehr unterliegt, sei sie auch noch so „göttlich“42!
Die Intelligenz wird im menschlichen Wesen getragen
Während die Intelligenz in ihrem Wesen formlos bleibt, ist sie in ihren tatsächlichen Manifestationen immer „in eine bestimmte Form gekleidet“ und vor allem „im Sein von der menschlichen Person getragen“ (subjektiviert in einer Person). Indem er alles auf die Modalitäten der Intellektion reduziert, ignoriert Guénon praktisch das menschliche Wesen als solches. Und auch wenn er regelmäßig vom „menschlichen“ Zustand spricht, kann man den menschlichen Zustand des Seins (eine Natur) nicht mit dem Sein des Menschen (ein esse) gleichsetzen. De facto wird dieses „Sein“ nur als ontologische Mindestbedingung herangezogen, die erforderlich ist, um eine spiegelbildliche Instanz zu bilden. Und tatsächlich gibt es in diesen vielfältigen Zuständen des Seins „viel mehr ‚Zustände‘ als ‚Sein'“. „Menschsein bedeutet nicht, dass das Wesen eine vorübergehende und kontingente Form annimmt, während es gleichzeitig in einer Vielzahl von anderen Zuständen existiert. Als solcher kann der Mensch die hierarchischen Zustände der Schöpfung erreichen, die in ihm in allen ihren Modi praktisch enthalten sind: der Mikrokosmos fasst den Makrokosmos zusammen. Der Mensch ist nicht nur eine individuelle, vorübergehende und kontingente Form, da er durch seinen Theo-Morphismus das gesamte Universum transzendiert und in sich vereint. “Der Mensch“, sagt Pascal, “geht unendlich am Menschen vorbei“.“
Das menschliche Wesen lässt sich nicht auf den Intellekt reduzieren
Mit einem Wort: Die Betrachtung der spiegelbildlichen Ontologie beruht auf einer Reduktion des menschlichen Wesens auf den Intellekt. Nur in diesem Fall kann „ein Seinszustand mit einer Erkenntnisweise identifiziert werden, und diese Erkenntnisweise kann gegebenenfalls so betrachtet werden, dass sie die Identität des erkennenden Wesens und des erkannten Objekts verwirklicht“. Andernfalls – und das ist der Sinn der von Guénon immer wieder ungenau zitierten Lehre des Aristoteles43 -, ist die Erkenntnis nur dann der gemeinsame Akt des Erkennenden und des Erkannten, wenn dieser gemeinsame Akt der des Intellekts und des Intelligiblen ist, und nicht der des Wesens, das verständig ist44. „Weil der Intellekt nicht das verstandesbildende Wesen ist (sondern nur eine Fähigkeit dieses Wesens), kann er sich in seinem Akt mit dem identifizieren, was er verstandesbildet“.
Erinnern wir uns an diesen banalen Vergleich: Nicht das Auge sieht, sondern der mit Sehkraft begabte Mensch; im Menschen vollzieht sich der Akt des Sehens, d.h. der visuellen Erkenntnis, und damit gelangt das Sehen ins Dasein. Dasselbe gilt für den Intellekt, der nur als Vermögen eines realen und existierenden Wesens Sein hat45.
Die Erkenntnis ist ihrem Wesen nach göttlich, ihrem Modus nach menschlich
Deshalb kann man das Sein (esse) nicht auf einen Grad der Erkenntnis reduzieren, auch wenn man die skalare Ontologie spiegelbildlich interpretieren muss, um die Hierarchie der Wesen zu verstehen (der onto-kosmologische situs eines Wesens hat seinen zureichenden Grund und entspricht einem bestimmten Stand der Erkenntnis). Aber für alle Geschöpfe ist das Sein (esse) etwas radikal Entscheidenderes, denn gerade durch ihr Sein (esse) sind die Geschöpfe Geschöpfe, während man durch ihre Erkenntnisweise im Gegensatz dazu fast sagen könnte, dass sie dem Ungeschaffenen angehören: da alle Erkenntnis Offenbarung des Wesens als eines göttlichen Partizipierbaren ist46.
So ist unsere Erkenntnis sowohl prinzipiell und göttlich in ihrem Grund als auch relativ und indirekt in ihrem Modus; „es ist also nicht der Modus der Erkenntnis, der für sich genommen die Bestimmung der Grade des Wirklichen wiedergeben kann, sondern es ist das esse jedes Geschöpfes, das seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Grad des Wirklichen begründet und folglich seinen Modus der Erkenntnis bestimmt“.
Gott kann nur durch sich selbst erkannt werden
Als Prinzipal und Gott ist Erkenntnis in dem Maße möglich, in dem sie, wie Guénon sagt, ein „Aspekt des Unendlichen“47 ist, nämlich der Aspekt, unter dem das Unendliche sich selbst erkennt. Von diesem Standpunkt aus gibt es keine andere Erkenntnis als die, von der Gott sich selbst als Unendlichkeit der Möglichkeit kennt, und daher ist jede Erkenntnis, sei sie nun menschlich oder engelhaft, in ihrem Kern ewig, oder, wenn man es vorzieht, zeitlos. In welchem Sinn könnte das, was ein reiner Akt und somit unveränderlich ist, das Ereignis erleiden, das die Tatsache des Erkennens für ihn darstellt? Dieses Ereignis kann ihn nicht betreffen, aber Er kann nicht fremd sein (dann würde der Akt des Erkennens nicht stattfinden). Deshalb muss man zugeben, dass „Gott nur durch sich selbst erkannt werden kann“, und daher ist das Ereignis der Theognosie nicht etwas, das „Gott widerfährt“, sondern ein ewiges Ereignis. „Die Realität des noetischen Ereignisses kann nur das Aufblitzen, in einem intellektuellen Spiegel, der permanenten Aktualität der Erkenntnis sein, die Gott von sich selbst in seinem Wort nimmt, jenem Wort, das der Ort der Möglichkeiten ist und in dem jedes noetische Ereignis stattfindet. Und weil in ihm die Erkenntnis, die Gnosis, ewig vollendet ist, kann sie sich in jedem Augenblick in jeder Intelligenz verwirklichen, die für sein Licht offen ist“.
Die Erkenntnis ist der Vater, der sein Wort zeugt
Da die Gnade die Natur unterstützt, „wird“ der menschliche Intellekt zu dem, was er war: Licht im Licht. Jedes Mal, wenn auf diese Weise ein „Ereignis der Gnosis“ eintritt, „das nichts anderes ist als eine Möglichkeit des Unendlichen selbst, jedes Mal verwirklicht die höchste Thearchie das Geheimnis ihrer neuen und ewigen Geburt zu sich selbst, jedes Mal zeugt der Vater sein Wort, seinen einzigen und geliebten Sohn, in der Einheit seines Geistes“.
Für den Menschen geht das Sein dem Wissen voraus
Nur die Betrachtung der geschaffenen Natur des Menschen kann von einer Erkenntnis berichten, die in ihrer Art menschlich ist. „Die Betrachtung des Menschen in seiner Geschöpflichkeit […] bedeutet auch, das Spekulative zu verlassen und endlich in die Wirklichkeit einzutreten“ (unsere existentielle Bedingung), indem man „mit einer gewissen Illusion des metaphysischen Diskurses“ bricht. Denn „genau hier entsteht diese Illusion“: „Da alle Erkenntnis in der Spontaneität und Unmittelbarkeit ihres Aktes liegt“, die Zeit der Lektüre und der Meditation, „zieht sie uns aus der bedingten Welt heraus und lässt uns mit reinen Objekten leben“. Daraus ergibt sich hier mehr noch als in jedem anderen Bereich die Notwendigkeit, „den Höhenflug der metaphysischen Spekulation mit dem Gewicht des Seins zu beschweren“. Die Erkenntnis muss „mit dem Sein des Erkennenden verbunden werden, das hier auf der Erde und nirgendwo anders ist, wo Gott ihn geboren hat, indem er ihm die Möglichkeit gab, aus dem Nichts hervorzutreten“.
Die Schöpfung geht metaphysisch gesehen über den Standpunkt der Manifestation hinaus
Das Sein des Geschöpfes in Betracht zu ziehen, bedeutet im gleichen Atemzug, das göttliche Schöpferwesen in Betracht zu ziehen, das das Sein aus dem Nichts hervorgehen lässt. Davon sagt die Lehre von der Manifestation nichts! Schlimmer noch, laut Guénon ist der Unterschied zwischen „Manifestation“ und „Schöpfung“ der zwischen Esoterik und Exoterik oder auch zwischen „dem metaphysischen und dem religiösen Standpunkt“48. Der gewöhnliche Kreationismus könnte in mancher Hinsicht nahelegen, dass die Schöpfungslehre eine massentaugliche Verkürzung der Manifestationslehre wäre. Wenn man die Schöpfungslehre jedoch auf ihrer ernsthaftesten Ebene betrachtet, stellt man fest, dass sie die Manifestationslehre metaphysisch und zumindest in einem Punkt „an spekulativer Fruchtbarkeit übertrifft“:
Von einer „Manifestation“ zu sprechen, von dem, was manifestiert wird, bedeutet eigentlich, es aus der Sicht des Menschen zu betrachten. Ist dieser Anthropozentrismus metaphysischer als der kreationistische Theozentrismus? Vor allem aber „betrachtet die Lehre von der Manifestation die Beziehung zwischen dem Prinzip und seinen kosmischen Wirkungen als eine Beziehung der Kontinuität: Was sich im Manifestierten offenbart, ist das Wesen (das Mögliche oder Archetypische), das im Nicht-Manifestierten enthalten ist“. Dies ist sowohl eine Lehre der Schrift („Denn seit der Erschaffung der Welt“, sagt Paulus, „ist das, was von Gott unsichtbar war, durch seine Werke sichtbar gemacht worden für den, der Verständnis hat“, nämlich „seine ewige Macht und Gottheit“: Röm I,20) als auch eine formale Lehre der Theologie (Gott ist eine „Unendlichkeit der Möglichkeit“, die Geschöpfe haben ein „unerschaffenes Wesen“49.“).
Der Standpunkt der Schöpfung schließt also das Metaphysische des Standpunkts der Manifestation ein“. Aber er fügt ihr ausdrücklich etwas hinzu: die Berücksichtigung des Seins (esse) als solches, des Seins als Differenz zum Nichts, als esse ex nihilo (kein anderes Mittel, um die erste Intuition des Seins zu erreichen, als es als Nicht-Existenz zu „erfassen“, als „das, was aus dem Nichts hervortritt“((Die Analogie denken, S. 76-80.). So ist die Betrachtung der Seinsgrade relativ und zweitrangig gegenüber der Intuition des esse, denn selbst wenn die Manifestation in ihrer Gesamtheit nur eine Illusion ist, muss diese Illusion noch sein. Gott ist nicht nur derjenige, der ein solches Wesen offenbar macht, „Er ist derjenige, der dem Geschöpf “alles Sein gibt“: Das Sein ist das permanente Geschenk einer Hervorhebung-aus-dem-Nichts; das Esse ist grundsätzlich ex nihilo – was auch vom göttlichen Wesen gesagt werden kann, aber dann hat das Nihil eine ganz andere Bedeutung50. Wie man sieht, bietet die Lehre von der Schöpfung Zugang zu einer wirklich metaphysischen Intuition des Seins“51.
Es ist die Andersartigkeit, die den Akt der Erkenntnis denkbar macht
Vom Sein als Geschenk zu sprechen, bedeutet, von einem Geber zu sprechen, der das Sein selbst ist „und “Mehr als Sein“, da er es gerade geben kann“. Diese Schenkung des Seins aus dem Nichts führt eine Diskontinuität zwischen dem Geschaffenen und dem Ungeschaffenen ein, eine ontologische Diskontinuität, die durch eine eidetische Kontinuität (des Eidos, der Essenz oder Idee, manifestiert hier auf Erden, nicht manifestiert „dort oben“) verdoppelt wird. Es ist diese Diskontinuität, die den existenziellen Situs des Geschöpfs begründet und das, von dem aus nur das Geschöpf sich dem Prinzip zuwenden kann. „Diese Andersartigkeit macht ihre Ausrichtung auf die Identität, die sie übersteigt, deutlich, macht ihre noetische und spirituelle Spannung auf das transzendente Objekt deutlich – eine Andersartigkeit, ohne die der Akt der Erkenntnis selbst undenkbar wäre“.
Die Schöpfungslehre drückt die Abhängigkeit des Geschaffenen vom Ungeschaffenen aus, was keine Metaphysik leugnen kann, aber vor allem berichtet sie von einem Geschenk, das Gott nicht gibt, um es wieder zu nehmen. Das wahre Geschenk ist das, was das Geschöpf in seiner Freiheit einsetzt!
Die Schöpfungslehre gibt Rechenschaft über die Möglichkeit der Gnosis
„Die Schöpfungslehre steht der Ausübung der Gnosis, d.h. der heiligen Erkenntnis, keineswegs entgegen, sondern scheint uns die einzige zu sein, die geeignet ist, deren Möglichkeit zu verdeutlichen, weil sie in den spontan identifizierenden und assimilierenden Erkenntnisprozess das Element der Andersartigkeit einführt, ohne das die Erkenntnis, ein natürlicher Akt der Intelligenz, nicht im Bewusstsein der Forderung nach ihrer Überwindung entstehen kann. Indem sie das Geschöpf lehrt, dass sein existenzieller Situs, das, von dem aus es auf das Prinzip blickt, ein Unterhalb des Erkenntnisprozesses ist (das Sein des Erkennenden ist nicht das Erkennen), lehrt sie es auch, dass sein letztes Objekt jenseits seines Ergreifens liegt. Sie lehrt ihn daher, sich von sich selbst zu entäußern, die Begriffe, d. h. etymologisch die „Erfassungen“, mit denen er operiert, zu öffnen. Sie lehrt ihn, auf seine eigenen Konstruktionen, die Aussagen seiner Rede, zu verzichten und zu einer anderen Art der Erkenntnis zu erwachen, einer gesonderten, getrennten, heiligen, menschlich unerfüllbaren, unerfüllten, ihrer selbst beraubten Erkenntnis, einer Erkenntnis, die nicht mehr zu sich selbst gehört, weil ihr Inhalt jeden begrifflichen Modus übersteigt, und die auf ihre Vollendung in der unauslöschlichen Hoffnung und im Glauben wartet; aber dennoch eine Erkenntnis, eine Intelligenz, die sich in ihrem innersten Grund, in ihrem Herzen, als unsagbar verbunden mit dem erfährt, was sie in der Finsternis in ihrem Inneren betrachtet„52.
Anmerkungen
- Les états multiples de l’être, Éd. Véga, Paris, 1947, S. 19-20.[↩]
- Was Guénon das „Nicht-Sein“ und Schuon das „Über-Sein“ nennt.[↩]
- Die „Zitate“ ohne Verweis, sind, bis auf das Wort, von Jean Borella.[↩]
- Jacques Chevalier, Histoire de la pensée, Flammarion, T. II, S. 777.[↩]
- Summa de Theologiae I, q. 15, a. 2.[↩]
- Die vielfältigen Zustände…, S. 31-38.[↩]
- Vom Göttlichen zum Menschlichen, S. 50.[↩]
- Vgl. Contra Gentiles I, 66, § 4; auch, Penser l’analogie, S. 89-117.[↩]
- Über die Wahrheit, Q. 2, a. 8. Haupttext von S. Thomas zu diesem Thema.[↩]
- Ähnlichkeiten, die wir nicht als Erste entdecken; siehe zum Beispiel die Studie von François Chenique, „Possibilités de non-manifestations et purs possibles“ in Sagesse chrétienne et mystique orientale, Dervy, 1996, Kap. XVII.[↩]
- Über die Wahrheit, Q 2, a. 8; Bonino, S. 303.[↩]
- Über die Wahrheit, Q 2, a. 8; Bonino, S. 304.[↩]
- S. Th. I, Q. 14, a. 2.[↩]
- Sie traf Guénon im November 1915 an der Sorbonne und verwendete in ihrer Doktorarbeit in scholastischer Philosophie (L’Être en puissance d’après Aristoteles et saint Thomas d’Aquin, veröffentlicht 1922, Éd. Marcel Rivière) bereits Guénons Vokabular wie die „Möglichkeiten der Nichtmanifestation“, mehrere Jahre bevor Guénon sie in L’homme et son devenir selon le Védânta explizit darlegte. Vgl. Xavier Accart, Guénon ou le renversement des clartés, Edidit, Paris, Archè, Milano, 2005, S. 62.[↩]
- L’Être en puissance selon Aristoteles et saint Thomas d’Aquin, pp. 185-186.[↩]
- Serge Bonino, De la Vérité, Q. 2, le Cerf, S. 234.[↩]
- Quæstio de Potentia, Q. 3, a. 1, ad 3m. „Obwohl sich die Materie aufgrund ihrer Potentialität von der Ähnlichkeit mit Gott entfernt, behält sie dennoch, da sie das Sein durch diese Potentialität selbst hat, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem göttlichen Wesen“; S. th. I, Q. 14, a. 11, ad 3m.[↩]
- S. Th. I, Q. 48, a. 2. Dieselbe These bei Aristoteles: Du Ciel I, 12, 283a24; GF, S. 91. In einem etwas anderen Sinn vgl. Leibniz, Discours de métaphysique et autres textes, GF, 2001, S. 327-333[↩]
- „Jede Möglichkeit der Manifestation muss sich notwendigerweise dadurch manifestieren; […] umgekehrt ist jede Möglichkeit, die sich nicht manifestieren muss, eine Möglichkeit der Nicht-Manifestation“; Les états multiples…, S. 26.[↩]
- Um in dieses Geheimnis einzudringen, muss man das Warum aufgeben. Ein platonischer Christ, der sich um den Grund für die Existenz eines Geschöpfes sorgt, findet ihn in den Ideen oder göttlichen Möglichkeiten.
Dieser Aufstieg ist gut. Aber wie geht es weiter? Kann man sich noch fragen: Warum die prinzipielle Rose? Eine Frage ohne Antwort, die uns mit einer wesentlichen Kontingenz konfrontiert. Auf das Warum zu verzichten, bedeutet, auf das Denken zu verzichten, das immer „Was?“ oder „Warum?“ sagt. Etwas zu denken bedeutet, seine Möglichkeit zu denken. Bei den Essenzen angelangt, schließt das Denken die Augen und schweigt. Verblüfft über die höchste Wesenheit aller Dinge, ist es von sich selbst befreit.[↩]
- Guénon behauptet zwar die Kontingenz der Manifestation in Kap. XVII seines Buches, aber es ist eine Kontingenz des Prinzips, die das Esse des Geschaffenen nicht beeinträchtigt.[↩]
- „Das Unmanifestierte umfasst das, was wir das Nicht-Manifestierbare nennen können, d.h. die Möglichkeiten der Nicht-Manifestation, und das Manifestierbare, d.h. die Möglichkeiten der Manifestation, insofern sie sich nicht manifestieren“; Les états multiples…, S. 33. Das Manifestierbare in seinem nichtmanifestierten Zustand ist das, was Guénon „die reinen Möglichkeiten“ nennt, die sorgfältig von den Möglichkeiten der Nichtmanifestation unterschieden werden: ebenda, S. 124[↩]
- Ebd., S. 31.[↩]
- Ebd., S. 90-91.[↩]
- „Réalisation ascendante et descendante“, Kap. XXXII von Initiation et réalisation spirituelle, Éditions Traditionnelles, 1952, S. 215-229.[↩]
- Die vielfältigen Zustände…, S. 101 (französische Ausgabe).[↩]
- Initiation und spirituelle Verwirklichung, S. 217 (französische Ausgabe).[↩]
- Die vielfältigen Zustände…, S. 34.[↩]
- Der Mensch und sein Werden nach dem Vedânta, 1974, S. 26. Shankara, Prolegomena zum Vedânta, I, 5ème Abschnitt, § 12, und 6ème Abschnitt, § 11; Trad. Louis Renou, Adrien Maisonneuve, 1951, S. 55 und S. 69[↩]
- Ibid.., S. 37.[↩]
- Ibid., S. 36-37.[↩]
- In diesem Sinne ist die Gleichsetzung von Guénons Möglichkeiten der Nichtmanifestation mit den reinen Möglichkeiten der Scholastik – Cheniques These – im Grunde legitim. Aber Guénon hätte sie zweifellos zurückgewiesen[↩]
- Dieser wichtige metaphysische Punkt wurde in mehreren unserer Bücher behandelt, insbesondere Der Sinn des Übernatürlichen, S. 235-248, und Penser l’analogie („Denken in Analogien“), S. 96-109.[↩]
- Er spricht „in theologischen Begriffen nur, um den Vergleich mit den üblichen Ansichten des westlichen Denkens zu erleichtern“![↩]
- Das ist natürlich keine Täuschung, Guénon ist ein aufrechter Geist.[↩]
- Die vielfältigen Zustände…, S. 21, Anm. 1. Die Schwierigkeit besteht darin, zu wissen, wer wen interpretiert? Und es ist nicht umkehrbar: Brahma sagt etwas, was Infini nicht sagt und was uns unmittelbarer in die Gegenwart des göttlichen Mysteriums bringt.[↩]
- Les états multiples…, S. 11.[↩]
- Ebenda, S. 30, Anm. 2[↩]
- Ebenda, S. 116.[↩]
- Wir haben versucht, diesen Punkt in einem Artikel „Erkenntnis und Verwirklichung“ zu entwickeln, der in Connaissance des Religions, Vol. III, Nr. 2-3, September-Dezember 1987, S. 13-26. Einige Analysen in diesem Artikel entsprechen nicht mehr dem aktuellen Stand unserer Überlegungen.[↩]
- Die vielfältigen Zustände…, S.118.[↩]
- Ibid., S. 117 mit Fußnote 1.[↩]
- Les états multiples…, pp.110-111.[↩]
- Aristoteles sagt genau dies: „Die (intellektive) Seele ist in gewisser Weise (pôs) alle Wesen“. Und er präzisiert: „Nicht der Stein (als erkannter) ist in der (erkennenden) Seele, sondern seine Form“; Über die Seele, III, 8, 431b und 432a. Guénon zitiert diesen Text ungenau (indem er pôs vergisst), z. B. in Introduction à l’étude des doctrines hindoues (Einführung in das Studium der Hindu-Lehren), 1952, S. 144-145. Siehe auch: Guénon’s Esoterism and Christian Mystery, S. 42-43.[↩]
- („Es wäre in der Tat besser, nicht zu sagen, dass es die (intellektive) Seele ist, die Mitleid hat, lernt oder reflektiert, sondern dass es der Mensch ist, der dies tut, durch seine Seele“, Über die Seele, I, 408b, 15.[↩]
- In diesem Sinne kann S. Thomas das Wesen als ein göttliches Partizipierbares offenbaren. Thomas erklären, dass der handelnde Intellekt wie ein von Gott abgeleitetes Licht ist (quasi lumen derivatum a Deo), was Étienne Gilson zusammenfasst: „Dieses intellektuelle Licht, das in uns ist, ist nichts anderes als ein teilhabendes Gleichnis des ungeschaffenen Lichts, und da das ungeschaffene Licht die ewigen Essenzen aller Dinge enthält, kann man in einem gewissen Sinne sagen, dass wir alles in den göttlichen Exemplaren kennen“; Le Thomisme, 1942, S.297.; vgl. S. Thomas, S. Th., 1, Q.84, a.5. Oder dass Meister Eckhart sagen kann, dass es „in der Seele eine Kraft (den Intellekt) gibt – und wenn die Seele ganz so wäre, wäre sie unerschaffen und unerschaffbar. Aber jetzt ist es nicht so“; Sermon 13; Traktate und Predigten, trad. A. de Libera, GF, S. 304-305[↩]
- Die vielfältigen Zustände…, S. 91.[↩]
- „Création et manifestation“, wiedergegeben in Aperçus sur l’ésotérisme islamique, Gallimard, 1973, S. 93.[↩]
- S.Th., I, Q.18, a.4; vgl. Die entweihte Liebe, S. 341-343.[↩]
- Ibid., S. 92 ff.[↩]
- Und vielleicht wäre Aristoteles bei der Suche nach einer „Wissenschaft vom Sein als Sein“ auf weniger Schwierigkeiten gestoßen, wenn er über die Idee der Schöpfung ex nihilo verfügt hätte.[↩]
- Hervorhebung hinzugefügt.[↩]